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Sondernewsletter 09: Misrachim und Aschkenasim |
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Lange Jahre wurde die jüdische israelische Gesellschaft vor allem mit zwei Gruppen beschrieben: Aschkenasim, die aus Europa und Amerika stammenden Juden, einerseits und Misrachim, die nordafrikanischen und nahöstlichen, andererseits.
Dass
diese Einteilung, bei der die Misrachim auch als „das zweite Israel“
beschrieben werden, nicht mehr der heutigen Realität entspricht und
vielleicht auch nie entsprochen hat, davon zeugen schon die vielen
Neueinwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder auch
Äthiopien, die das Bild der Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren
entscheidend verändert haben. Ebenso spricht gegen die Relevanz des
Themas, dass heute bereits 70 Prozent der jüdischen Israelis im Land
geboren sind und auch bei der Partnerwahl die ethnische Zugehörigkeit
eine immer kleinere Rolle spielt.
Und doch scheint das Thema nicht ganz vom Tisch, lässt es immer wieder die Emotionen hochschlagen... |
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 | Geschichte | Vor
der ersten zionistischen Einwanderungswelle 1882 waren orientalische
Juden in Palästina in der Mehrheit, sie stellten etwa 60 Prozent der
jüdischen Bevölkerung.
Bei Staatsgründung 1948 hatte sich das
Blatt gewendet, und durch Einwanderung stammten nun bereits 77% der
Bevölkerung aus Europa und Amerika. Zwischen 1882 und 1948 hatten
orientalische Einwanderer (vor allem aus dem Yemen und Aden) lediglich
10% der Einwanderer ausgemacht. Dies änderte sich jedoch schnell:
zwischen 1948 und 1951 kamen 49% aller Olim aus
Nordafrika und Asien, 1952/53 waren es 70% und zwischen 1954 und 1975
stellten Juden aus Afrika (die Mehrheit von ihnen aus Marokko) 63% aller
Immigranten.
Die Beziehungen zwischen Aschkenasim und Misrachim (die damals noch häufig als Sfaradim bezeichnet wurden) waren von Beginn an problematisch. Der Zionismus war in Europa entstanden, und die Aschkenasim hatten die Schlüsselstellen im entstehenden Staat bereits vor seiner Gründung besetzt.
 Übergangslager, sog. Ma´abara, 1950
Hinzu kam die Dominanz des Säkularen unter den Aschkenasim, während viele Misrachim ein traditionelles, wenn auch nicht orthodoxes Religionsverständnis mitbrachten.
In der Wahrnehmung vieler Misrachim wurde
die aschkenasische Elite von der Arbeitspartei verkörpert, die seit
Staatsgründung und bis 1977 ununterbrochen den Ministerpräsidenten
stellte. Sie wurde von vielen Misrachim für
alles verantwortlich gemacht, was ihrer Meinung nach bei der
Einwanderung falsch gelaufen war: von der Desinfektion mit DDT bei der
Ankunft und die Unterbringung in den Übergangslagern (Ma´abarot), über
die anschließende Übersiedlung in die sogenannten „Entwicklungsstädte“,
die in der Regel in der Peripherie lagen, bis hin zu den hohen
Kriminalitätsraten unter den jugendlichen Misrachim.
1977 brachten daher vor allem misrachische Wähler
die politische Wende: Mit Menachem Begin wurde erstmals ein Kandidat
der zum Likud-Block gehörenden Partei Cherut Ministerpräsident.
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 | Zahlen | Der
israelische Zensus erfasst die Frage zur ethnischen Zugehörigkeit der
jüdischen Staatsbürger nur über eine Generation: Wer in zweiter
Generation in Israel geboren ist, dessen Ursprungsland ist „Israel“ und
er verliert in der Statistik eine etwaige aschkenasische und misrachische Herkunft.
 Streng paritätisch besetzt: Die Moderatoren der Comedy-Sendung Matzav ha-Umma (Die Lage der Nation), Aschkenasim links, Sfaradim rechts
73%
der jüdischen Staatsbürger waren 2011 in Israel geboren, bei 40,4% galt
das auch bereits für ihren Vater. 27% der jüdischen Israelis sind
eingewandert – 3,3% aus Asien, 5,3% aus Afrika und 18,4% aus Europa und
Amerika. Was die Vätergeneration der in Israel Geborenen betrifft,
wurden 8,4% in Asien geboren, 9,8% in Afrika und 14,4% in Europa und
Amerika.
Noch vor vierzig Jahren, 1972, sah das Bild vollkommen
anders aus: Damals waren lediglich 47,3% der israelischen Juden im Land
geboren, nur 8,4% konnten dies auch über ihre Väter sagen. Von den 52,7%
der jüdischen Israelis, die eingewandert waren, kamen 11,8% aus Asien,
13% aus Afrika und 27,9% aus Europa und Amerika. Die Väter der in erster
Generation in Israel Geborenen kamen 1972 zu 12,6% aus Asien, 10% aus
Afrika und zu 16,3% aus Europa und Amerika.
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 | Wirtschaft und Studium | Die wirtschaftliche Situation von Aschkenasim und Misrachim in Israel heute untersucht eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Momi Dahan aus diesem Jahr.
Die Studie ergab, dass 47% der zu den wohlhabendsten zehn Prozent zählenden Israelis Aschkenasim sind,
das heißt, entweder selbst in Europa oder Amerika geboren wurden oder
ihr Vater dort geboren wurde. Der Anteil jener, die nach dieser
Definition Aschkenasim sind, beträgt allerdings nur 25% der israelischen Bevölkerung. Misrachim,
also Israelis, die entweder selbst oder deren Vater in Asien oder
Afrika geboren sind, machen dagegen lediglich 26% der oberen zehn
Prozent aus – ihr Anteil ist damit proportional zu dem in der
Bevölkerung.
 Immer noch mehr aschkenasische als misrachische Studierende: die Hebräische Universität Jerusalem
Geht es um die wirtschaftlich am schwächsten gestellten zehn Prozent der Bevölkerung, sind sowohl Aschkenasim als auch Misrachim proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil unterrepräsentiert, lediglich sechs Prozent sind Aschkenasim und mit 12% immerhin noch doppelt so viele Misrachim. Misrachim haben außerdem im Durchschnitt insgesamt auch heute noch ein um 20% niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen als Aschkenasim.
Der Anteil der an Hochschulen studierenden Misrachim betrug 2005 12,5% und war damit immer noch deutlich niedriger als der Anteil der Aschkenasim,
der 20,2% betrug. Dahan, der Autor der Studie, interpretiert dies
dennoch als Erfolg, da Mitte der 1960er Jahre der Anteil der Misrachim lediglich bei 1,6% gelegen hatte. „Der Graben schließt sich“, so Dahans eindeutige Interpretation.
„Als 1979 der Anteil der Misrachim in der Bevölkerung noch 45% betrug (vor den großen Einwanderungswellen aus der ehemaligen Sowjetunion), stellten die Misrachim lediglich
18% der oberen zehn Prozent. 1999 war ihr Anteil in der Bevölkerung 32%
und der in den oberen zehn Prozent bereits 23%. Heute entspricht er
ihrem Anteil an der Bevölkerung.“
(Haaretz, 20.01.12) |
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 | Gemeinsam | Nicht
jede oder jeder in Israel kann sich so selbstverständlich einer
ethnischen Gruppe zuordnen, wie es die Ausführungen von Dahan nahelegen.
Ehen zwischen Aschkenasim und Misrachim sind
häufig und werden immer häufiger. Dafür spricht auch, dass die letzte
Untersuchung zu diesem Thema beinahe zwanzig Jahre alt ist.
2006
untersuchten zwei Wissenschaftlerinnen die Häufigkeit interethnischer
Ehen in Israel, konnten jedoch lediglich auf Zahlenmaterial bis 1995
zurückgreifen.
 Aschkenasim oder Misrachim? Israelis!
Demnach lag die Häufigkeit von Ehen zwischen Misrachim und Aschkenasim zwischen
1957 und 1961 bei 14% und war bis Anfang der 1990er Jahre auf 28%
gestiegen. Einer Vorgängerstudie zufolge neigen im Land geborene
Israelis eher dazu, Menschen aus einer anderen ethnischen Gruppe zu
heiraten als solche, die im Ausland geboren sind.

Außerdem stellte in den früheren Jahren die Ehe mit einem aschkenasischen Partner für einen Misrachi häufig noch eine Art gesellschaftlichen Aufstieg dar, wenn der sozio-ökonomische Aufstieg bereits gelungen war: Misrachim, die wirtschaftlich erfolgreich waren, heirateten häufig Aschkenasim, die ihnen wirtschaftlich oder von der Ausbildung her unterlegen waren. Später allerdings heirateten Misrachim und Aschkenasim eher
innerhalb ihres eigenen sozio-ökonomischen Status‘. Grundsätzlich sind
interethnische Ehen unter Akademikern stärker verbreitet als unter
Nicht-Akademikern.
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 | Der Fall Shlomo Maoz | Dass das Thema Misrachim und Aschkenasim noch immer für Emotionen sorgt, bewies zuletzt der Fall Shlomo Maoz: Maoz, Chefvolkswirt von Excellence Investments, hatte im Januar dieses Jahres in einem Vortrag am Sapir-College schwere Vorwürfe gegen die vermeintliche „aschkenasische Elite“
laut werden lassen und unter anderem erklärt, Bank Leumi, die
traditionsreichste israelische Bank, sei „eine Bank von Weißen. Nur
Weiße können dort eine Stelle bekommen“. Des Weiteren stellte er eine
These auf, nach der die Kibbuzim und Moshavim „Land gestohlen“ hätten.
 Maoz während seines Vortrages
Maoz‘ Vortrag führte dazu, dass sein Arbeitgeber Excellence ihn mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entband.
In den folgenden Wochen entbrannte in den Feuilletons und in den Diskussionsforen der Nachrichtenseiten eine Debatte über aschkenasische Hegemonie, misrachische Befindlichkeiten und die Überflüssigkeit oder Notwendigkeit der Frage nach ethnischer Herkunft.
Die
Soziologin Eva Illouz legte in einem mehrteiligen Gastbeitrag für
Haaretz dar, wie sie erst in Israel gemerkt habe, dass sie einer
diskriminierten Minderheit angehöre. Sie sei in Marokko geboren und in
Frankreich aufgewachsen, und die Tatsache, dass sie Misrachit sei, habe für sie nie eine Rolle gespielt – bis man ihr in Israel erklärt habe, sie sei eben keine „echte Misrachit“. Von aschkenasischer Seite habe es geheißen, sie interessiere sich schließlich für Proust, Rilke und Schubert. Ein misrachischer Bekannter
dagegen habe ihr vorgehalten, nur wer die Geschichte der Erniedrigung
in sich trage, wie sie die Einwanderer nach Israel durchgemacht hätten,
könne sich wirklich als Misrachi bezeichnen.
Darauf
reagierte Itamar Handelman Smith ebenfalls in einem Gastbeitrag, in dem
er erklärte, abgesehen von den israelischen Arabern seien die Aschkenasim die diskriminierte Minderheit in Israel. Ein „aschkenasisches Establishment“,
wie es unter anderem von Illouz angenommen werde, existiere nicht und
habe auch nie existiert. Die Institutionen in Israel und im britischen
Mandatsgebiet Palästina seien nicht aschkenasisch gewesen, im Gegenteil hätten die Angehörigen des Yishuv sehr
schnell jede Verbindung nach Europa verloren. Dies habe sich unter
anderem in der strikten Ablehnung des Jiddischen als Sprache
ausgedrückt, eine Ablehnung, die für Ladino und Arabisch, die Sprachen
der orientalischen Juden nicht gegolten hätte.
Einer der letzten
Artikel zum Thema stammt im April von Uri Misgav. Er erklärt: „In
Israel 2012 ist eine ethnische Debatte anachronistisch, was die
Gegenwart betrifft und beinahe vollkommen irrelevant, was die Zukunft
betrifft. […] Wie lange noch? Früher einmal ging es darum, wo man
herkam, bevor man nach Israel eingewandert war. Dann lautete die Frage,
wo die Eltern geboren waren. Heute gehören die meisten Israelis bereits
zur Generation der Enkel und Urenkel.“
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 | Auf der Collage sind zu sehen: | Tommy Lapid, Ikone der aschkenasischen
säkularen Gesellschaft; Shlomo Maoz, ehemaliger Chefvolkswirt von
Excellence Investments; Moshe Levy, geboren in Jerusalem und Sohn
irakischer Einwanderer, erster misrachischer Generalstabschef; Rabbi
Ovadia Yosef, ehemaliger sfaradischer Oberrabiner und spiritueller
Führer der Schass-Partei; der Moderator Dudu Topaz, der sich 1981
abfällig über orientalische Likud-Wähler äußerte („ha-Tschachtschachim
shel ha-Likud“); Henriette Dahane-Kalev, Mitbegründerin der sozialen
Bewegung Ha-Keshet ha-demokratit ha-misrachit; Ministerpräsidentin
Golda Meir, die viele Misrachim gegen sich aufbrachte, als sie die
Aktivisten der „Schwarzen Panther“ nach einem Treffen als „nicht nett“
bezeichnete; Amnon Dankner, der 1983 in dem Artikel „Ich habe keine
Schwester“ erklärte, er betrachte Misrachim nicht länger als seine
Brüder und Schwestern; Yitzchak Navon, fünfter Präsident Israels,
geboren in Jerusalem als Sohn sfaradischer Juden; Menachem Begin,
geboren in Russland, erster Ministerpräsident des Likud-Blocks, gewählt
mit mehrheitlich misrachischen Stimmen; David Levy, Außenminister,
geboren in Marokko; Benjamin Ben Eliezer, Verteidigungsminister, geboren
im Irak
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