Donnerstag, 04.10.2012
 
 
Sondernewsletter 09: Misrachim und Aschkenasim
 


Lange Jahre wurde die jüdische israelische Gesellschaft vor allem mit zwei Gruppen beschrieben: Aschkenasim, die aus Europa und Amerika stammenden Juden, einerseits und Misrachim, die nordafrikanischen und nahöstlichen, andererseits.

Dass diese Einteilung, bei der die Misrachim auch als „das zweite Israel“ beschrieben werden, nicht mehr der heutigen Realität entspricht und vielleicht auch nie entsprochen hat, davon zeugen schon die vielen Neueinwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder auch Äthiopien, die das Bild der Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren entscheidend verändert haben. Ebenso spricht gegen die Relevanz des Themas, dass heute bereits 70 Prozent der jüdischen Israelis im Land geboren sind und auch bei der Partnerwahl die ethnische Zugehörigkeit eine immer kleinere Rolle spielt.

Und doch scheint das Thema nicht ganz vom Tisch, lässt es immer wieder die Emotionen hochschlagen... 


 
 
 
Geschichte
Vor der ersten zionistischen Einwanderungswelle 1882 waren orientalische Juden in Palästina in der Mehrheit, sie stellten etwa 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung.

Bei Staatsgründung 1948 hatte sich das Blatt gewendet, und durch Einwanderung stammten nun bereits 77% der Bevölkerung aus Europa und Amerika. Zwischen 1882 und 1948 hatten orientalische Einwanderer (vor allem aus dem Yemen und Aden) lediglich 10% der Einwanderer ausgemacht. Dies änderte sich jedoch schnell: zwischen 1948 und 1951 kamen 49% aller Olim aus Nordafrika und Asien, 1952/53 waren es 70% und zwischen 1954 und 1975 stellten Juden aus Afrika (die Mehrheit von ihnen aus Marokko) 63% aller Immigranten.

Die Beziehungen zwischen Aschkenasim und Misrachim (die damals noch häufig als Sfaradim bezeichnet wurden) waren von Beginn an problematisch. Der Zionismus war in Europa entstanden, und die Aschkenasim hatten die Schlüsselstellen im entstehenden Staat bereits vor seiner Gründung besetzt.


Übergangslager, sog. Ma´abara, 1950

Hinzu kam die Dominanz des Säkularen unter den Aschkenasim, während viele Misrachim ein traditionelles, wenn auch nicht orthodoxes Religionsverständnis mitbrachten.

In der Wahrnehmung vieler Misrachim wurde die aschkenasische Elite von der Arbeitspartei verkörpert, die seit Staatsgründung und bis 1977 ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellte. Sie wurde von vielen Misrachim für alles verantwortlich gemacht, was ihrer Meinung nach bei der Einwanderung falsch gelaufen war: von der Desinfektion mit DDT bei der Ankunft und die Unterbringung in den Übergangslagern (Ma´abarot), über die anschließende Übersiedlung in die sogenannten „Entwicklungsstädte“, die in der Regel in der Peripherie lagen, bis hin zu den hohen Kriminalitätsraten unter den jugendlichen Misrachim.

1977 brachten daher vor allem misrachische Wähler die politische Wende: Mit Menachem Begin wurde erstmals ein Kandidat der zum Likud-Block gehörenden Partei Cherut Ministerpräsident.
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Zahlen
Der israelische Zensus erfasst die Frage zur ethnischen Zugehörigkeit der jüdischen Staatsbürger nur über eine Generation: Wer in zweiter Generation in Israel geboren ist, dessen Ursprungsland ist „Israel“ und er verliert in der Statistik eine etwaige aschkenasische und misrachische Herkunft.


Streng paritätisch besetzt: Die Moderatoren der Comedy-Sendung
Matzav ha-Umma
(Die Lage der Nation), Aschkenasim links, Sfaradim rechts


73% der jüdischen Staatsbürger waren 2011 in Israel geboren, bei 40,4% galt das auch bereits für ihren Vater. 27% der jüdischen Israelis sind eingewandert – 3,3% aus Asien, 5,3% aus Afrika und 18,4% aus Europa und Amerika. Was die Vätergeneration der in Israel Geborenen betrifft, wurden 8,4% in Asien geboren, 9,8% in Afrika und 14,4% in Europa und Amerika.

Noch vor vierzig Jahren, 1972, sah das Bild vollkommen anders aus: Damals waren lediglich 47,3% der israelischen Juden im Land geboren, nur 8,4% konnten dies auch über ihre Väter sagen. Von den 52,7% der jüdischen Israelis, die eingewandert waren, kamen 11,8% aus Asien, 13% aus Afrika und 27,9% aus Europa und Amerika. Die Väter der in erster Generation in Israel Geborenen kamen 1972 zu 12,6% aus Asien, 10% aus Afrika und zu 16,3% aus Europa und Amerika.
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Wirtschaft und Studium
Die wirtschaftliche Situation von Aschkenasim und Misrachim in Israel heute untersucht eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Momi Dahan aus diesem Jahr.

Die Studie ergab, dass 47% der zu den wohlhabendsten zehn Prozent zählenden Israelis Aschkenasim sind, das heißt, entweder selbst in Europa oder Amerika geboren wurden oder ihr Vater dort geboren wurde. Der Anteil jener, die nach dieser Definition Aschkenasim sind, beträgt allerdings nur 25% der israelischen Bevölkerung. Misrachim, also Israelis, die entweder selbst oder deren Vater in Asien oder Afrika geboren sind, machen dagegen lediglich 26% der oberen zehn Prozent aus – ihr Anteil ist damit proportional zu dem in der Bevölkerung.


Immer noch mehr aschkenasische als misrachische Studierende:
die Hebräische Universität Jerusalem


Geht es um die wirtschaftlich am schwächsten gestellten zehn Prozent der Bevölkerung, sind sowohl Aschkenasim als auch Misrachim proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil unterrepräsentiert, lediglich sechs Prozent sind Aschkenasim und mit 12% immerhin noch doppelt so viele Misrachim. Misrachim haben außerdem im Durchschnitt insgesamt auch heute noch ein um 20% niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen als Aschkenasim.

Der Anteil der an Hochschulen studierenden Misrachim betrug 2005 12,5% und war damit immer noch deutlich niedriger als der Anteil der Aschkenasim, der 20,2% betrug. Dahan, der Autor der Studie, interpretiert dies dennoch als Erfolg, da Mitte der 1960er Jahre der Anteil der Misrachim lediglich bei 1,6% gelegen hatte. „Der Graben schließt sich“, so Dahans eindeutige Interpretation.

„Als 1979 der Anteil der Misrachim in der Bevölkerung noch 45% betrug (vor den großen Einwanderungswellen aus der ehemaligen Sowjetunion), stellten die Misrachim lediglich 18% der oberen zehn Prozent. 1999 war ihr Anteil in der Bevölkerung 32% und der in den oberen zehn Prozent bereits 23%. Heute entspricht er ihrem Anteil an der Bevölkerung.“

(Haaretz, 20.01.12)
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Gemeinsam
Nicht jede oder jeder in Israel kann sich so selbstverständlich einer ethnischen Gruppe zuordnen, wie es die Ausführungen von Dahan nahelegen. Ehen zwischen Aschkenasim und Misrachim sind häufig und werden immer häufiger. Dafür spricht auch, dass die letzte Untersuchung zu diesem Thema beinahe zwanzig Jahre alt ist.

2006 untersuchten zwei Wissenschaftlerinnen die Häufigkeit interethnischer Ehen in Israel, konnten jedoch lediglich auf Zahlenmaterial bis 1995 zurückgreifen.


Aschkenasim oder Misrachim? Israelis!

Demnach lag die Häufigkeit von Ehen zwischen Misrachim und Aschkenasim zwischen 1957 und 1961 bei 14% und war bis Anfang der 1990er Jahre auf 28% gestiegen. Einer Vorgängerstudie zufolge neigen im Land geborene Israelis eher dazu, Menschen aus einer anderen ethnischen Gruppe zu heiraten als solche, die im Ausland geboren sind.



Außerdem stellte in den früheren Jahren die Ehe mit einem aschkenasischen Partner für einen Misrachi häufig noch eine Art gesellschaftlichen Aufstieg dar, wenn der sozio-ökonomische Aufstieg bereits gelungen war: Misrachim, die wirtschaftlich erfolgreich waren, heirateten häufig Aschkenasim, die ihnen wirtschaftlich oder von der Ausbildung her unterlegen waren. Später allerdings heirateten Misrachim und Aschkenasim eher innerhalb ihres eigenen sozio-ökonomischen Status‘. Grundsätzlich sind interethnische Ehen unter Akademikern stärker verbreitet als unter Nicht-Akademikern.
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Der Fall Shlomo Maoz
Dass das Thema Misrachim und Aschkenasim noch immer für Emotionen sorgt, bewies zuletzt der Fall Shlomo Maoz: Maoz, Chefvolkswirt von Excellence Investments, hatte im Januar dieses Jahres in einem Vortrag am Sapir-College schwere Vorwürfe gegen die vermeintliche „aschkenasische Elite“ laut werden lassen und unter anderem erklärt, Bank Leumi, die traditionsreichste israelische Bank, sei „eine Bank von Weißen. Nur Weiße können dort eine Stelle bekommen“. Des Weiteren stellte er eine These auf, nach der die Kibbuzim und Moshavim „Land gestohlen“ hätten.


Maoz während seines Vortrages

Maoz‘ Vortrag führte dazu, dass sein Arbeitgeber Excellence ihn mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entband.

In den folgenden Wochen entbrannte in den Feuilletons und in den Diskussionsforen der Nachrichtenseiten eine Debatte über aschkenasische Hegemonie, misrachische Befindlichkeiten und die Überflüssigkeit oder Notwendigkeit der Frage nach ethnischer Herkunft.

Die Soziologin Eva Illouz legte in einem mehrteiligen Gastbeitrag für Haaretz dar, wie sie erst in Israel gemerkt habe, dass sie einer diskriminierten Minderheit angehöre. Sie sei in Marokko geboren und in Frankreich aufgewachsen, und die Tatsache, dass sie Misrachit sei, habe für sie nie eine Rolle gespielt – bis man ihr in Israel erklärt habe, sie sei eben keine „echte Misrachit“. Von aschkenasischer Seite habe es geheißen, sie interessiere sich schließlich für Proust, Rilke und Schubert. Ein misrachischer Bekannter dagegen habe ihr vorgehalten, nur wer die Geschichte der Erniedrigung in sich trage, wie sie die Einwanderer nach Israel durchgemacht hätten, könne sich wirklich als Misrachi bezeichnen.

Darauf reagierte Itamar Handelman Smith ebenfalls in einem Gastbeitrag, in dem er erklärte, abgesehen von den israelischen Arabern seien die Aschkenasim die diskriminierte Minderheit in Israel. Ein „aschkenasisches Establishment“, wie es unter anderem von Illouz angenommen werde, existiere nicht und habe auch nie existiert. Die Institutionen in Israel und im britischen Mandatsgebiet Palästina seien nicht aschkenasisch gewesen, im Gegenteil hätten die Angehörigen des Yishuv sehr schnell jede Verbindung nach Europa verloren. Dies habe sich unter anderem in der strikten Ablehnung des Jiddischen als Sprache ausgedrückt, eine Ablehnung, die für Ladino und Arabisch, die Sprachen der orientalischen Juden nicht gegolten hätte.

Einer der letzten Artikel zum Thema stammt im April von Uri Misgav. Er erklärt: „In Israel 2012 ist eine ethnische Debatte anachronistisch, was die Gegenwart betrifft und beinahe vollkommen irrelevant, was die Zukunft betrifft. […] Wie lange noch? Früher einmal ging es darum, wo man herkam, bevor man nach Israel eingewandert war. Dann lautete die Frage, wo die Eltern geboren waren. Heute gehören die meisten Israelis bereits zur Generation der Enkel und Urenkel.“
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Auf der Collage sind zu sehen:
Tommy Lapid, Ikone der aschkenasischen säkularen Gesellschaft; Shlomo Maoz, ehemaliger Chefvolkswirt von Excellence Investments; Moshe Levy, geboren in Jerusalem und Sohn irakischer Einwanderer, erster misrachischer Generalstabschef; Rabbi Ovadia Yosef, ehemaliger sfaradischer Oberrabiner und spiritueller Führer der Schass-Partei; der Moderator Dudu Topaz, der sich 1981 abfällig über orientalische Likud-Wähler äußerte („ha-Tschachtschachim shel ha-Likud“); Henriette Dahane-Kalev, Mitbegründerin der sozialen Bewegung Ha-Keshet ha-demokratit ha-misrachit; Ministerpräsidentin Golda Meir, die viele Misrachim gegen sich aufbrachte, als sie die Aktivisten der „Schwarzen Panther“ nach einem Treffen als „nicht nett“ bezeichnete; Amnon Dankner, der 1983 in dem Artikel „Ich habe keine Schwester“ erklärte, er betrachte Misrachim nicht länger als seine Brüder und Schwestern; Yitzchak Navon, fünfter Präsident Israels, geboren in Jerusalem als Sohn sfaradischer Juden; Menachem Begin, geboren in Russland, erster Ministerpräsident des Likud-Blocks, gewählt mit mehrheitlich misrachischen Stimmen; David Levy, Außenminister, geboren in Marokko; Benjamin Ben Eliezer, Verteidigungsminister, geboren im Irak
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