Von Ari Shavit Strategische Beobachter unterschiedlichster Weltanschauungen
schildern die strategische Situation Israels mit den gleichen
Worten. Es sind dunkle Wolken am Horizont.
Jenseits der abstumpfenden Welt der Reality-Shows „Big Brother“,
„Love Bay“ und Kadima kristallisiert sich die konkrete Wirklichkeit
eines heraufziehenden Sturmes heraus. Das iranische Atomprogramm,
die Abkommen-oder-Konflikt-Politik Syriens, die Aufrüstung der
Hisbollah und die Verschanzung der Hamas umzingeln Israel mit einem
enger werdenden Ring von Bedrohungen. Die Israelischen
Verteidigungsstreitkräfte haben eine vernünftige Antwort für die
Mehrheit dieser Bedrohungen, ihre Stärke ändert jedoch nichts an der
grundlegenden Tatsache: Die Aussichten sind groß, dass Israel 2009
oder 2010 dem Moment einer nationalen Prüfung gegenüberstehen
wird.
Es besteht kein Grund zu Angst oder Schwermut. Israel hat seit
seiner Gründung nationale Prüfungen bestanden. Mehr als einmal ist
es gestärkt daraus hervorgegangen. Was dem Staat ermöglicht hat, den
Herausforderungen der Vergangenheit zu begegnen, waren freilich
dreierlei Dinge: eine angemessene Führung, eine nüchterne
Einschätzung der Wirklichkeit und eine beeindruckende Fähigkeit zum
präventiven Handeln.
Der Staat hielt stand im Jahre 1948, siegte 1967 und erlangte in
den 70er Jahren die strategische Oberhand, nicht weil er allmächtig
war, sondern weil er sah, was sich in der Umgebung ereignete und die
Initiative ergriff. Er identifizierte die Bedrohung am Horizont im
Voraus und beseitigte sie. Er war sich seiner Stärken wohl bewusst
und auch seiner Schwächen und wusste sich derart vorzubereiten, dass
die Stärken im entscheidenden Moment zum Ausdruck kamen und das
Endresultat bestimmten.
So hätte Israel auch seit dem Ende des zweiten Libanonkriegs
verfahren müssen. Es hätte sehen müssen, was sich in der Umgebung
ereignet und die Initiative ergreifen müssen. Israel hätte nach
Washington und London, Paris, Brüssel und Moskau gehen müssen, um
eine politisch-wirtschaftliche Blockade des Iran zu betreiben. Es
hätte jeden Stein umdrehen müssen bei dem Versuch, zu einer
wirklichen Wegscheide mit Damaskus zu gelangen, die den Krieg
verhindern und die Hisbollah isolieren würde. Israel hätte eine
systematische und konsistente Politik gegenüber der Hamas
einschlagen und ihr als politisches Gebilde mit staatlicher
Verantwortung begegnen müssen.
Parallel dazu hätte Israel sich darauf einstellen müssen, dass
die diplomatischen Bemühungen scheitern und es in eine bewaffnete
Auseinandersetzung geraten würde. Es hätte sich für den Moment
wappnen müssen, an dem der Sturm seine Küsten erreicht.
Das Israel Ehud Olmerts hat dies nicht getan. Es stimmt: Die
Jahre der Regierung Olmert waren Jahre der Korruption, des
Normenzerfalls und des Angriffs auf den Rechtsstaat. Aber mehr als
das waren die Jahre der Regierung Olmert vergeudete Jahre.
‚Garbage-Time’ nennt man das im Basketball – weggeschmissene Zeit.
Weggeschmissene Zeit, da die Zeit doch so teuer ist, da so viele
Uhren um uns herum ticken. Weggeschmissene Zeit, da sich der
Horizont mit dunklen Wolken schwärzt.
Es ist spät, aber nicht zu spät. Israel hat etwa ein Jahr zur
Verfügung, um eine Wende an der iranischen Front herbeizuführen.
Israel hat eine letzte Gelegenheit, zu einem diplomatischen
Durchbruch an der syrischen Front zu gelangen. Israel hat auch eine
gewisse, wenngleich zögerliche Aussicht, ein anderes Verhältnis mit
der Hamas aufzubauen. Um all dies zu tun, müssen jedoch Mäßigung und
Entschlossenheit kombiniert werden. Man muss nach Frieden streben
und sich auf Krieg vorbereiten. Erforderlich sind eine angemessene
Führung, eine nüchterne Einschätzung der Wirklichkeit und eine
erneuerte Fähigkeit zum präventiven Handeln.
Am kommenden Mittwoch endet die törichte Epoche Olmerts. Mit
einer verbrecherischen Verspätung von zwei Jahren wird die
Regierungspartei entweder einen unwürdigen politischen Führer
oder eine unvollkommene politische Führerin wählen, die den hohlen
Ministerpräsidenten ablösen werden. Die Frage, die sich unmittelbar
nach Auszählung der Stimmen stellen wird, ist jedoch keine
persönlich-politische – Tzipi Livni, Shaul Mofaz oder Neuwahlen.
Vielmehr wird die Frage sein, ob die weggeschmissene Zeit vorüber
ist; ob Israel in der Lage ist, die politische Wirklichkeit jenseits
von „Big Brother“, „Love Bay“ und den inneren Angelegenheiten von
Kadima zu sehen; ob wir noch immer die Kraft haben, eine würdige
Führung zu finden, die mit dem herannahenden Sturm umzugehen
weiß.
Auf die Erwählte oder den Erwählten von Kadima wird eine schwere
Verantwortung zukommen. Bereits am Abend des Sieges muss eine neue
Art von Führung an den Tag gelegt werden. Bereits die Siegesrede
muss einen neuen Geist versprühen, sowohl in Richtung der
Öffentlichkeit als auch in Richtung der Führungen der anderen
Parteien.
Sollte eine Entscheidung bereits nächste Woche fallen, würde die
Woche eine Wasserscheide darstellen. Gleich danach muss in Israel
eine reife und hochqualitative Notstandsregierung gebildet werden.
Gleich danach muss Israel zu sich selbst zurückkehren und mit Verve
und Bedacht seiner Zukunft begegnen. Noch vor dem Sturm.
(Haaretz, 12.09.08) |