Von Avi Issacharoff „Der Putsch in Gaza hat für viele das Ende des palästinensischen
Traumes von einem einzigen Staat in Gaza und dem Westjordanland
bedeutet“, sagt P., ein Bewohner des Sajiyeh-Viertels im Norden des
Gaza-Streifens. „Der Traum ist aus. Israel wird doch nicht der
Gründung eines palästinensischen Staates in Gaza zustimmen, solange
die Hamas dort regiert. Der Putsch hat das palästinensische Volk
zweigeteilt. Selbst im Exil spalten sich die Palästinenser zwischen
Hamas- und Fatah-Anhängern.“
Aus Gesprächen mit Bewohnern des Gaza-Streifens anlässlich des
Jahrestags der Machtergreifung der Hamas ergibt sich ein
bedrückendes, beinahe hoffungsloses Bild. Dennoch verweisen die
Gazaer auch auf positive Entwicklungen. „Die Zeit der bewaffneten
Banden ist endgültig vorüber“, erklärt B., ein früherer Fatah-Mann.
„Heute hat die Familienzugehörigkeit keine Bedeutung mehr. Wer gegen
das Gesetz verstößt, wird bestraft. Das Chaos, die gestohlenen
Autos, die Erpressungen und Drohungen – all das ist vorbei.“
Auch A. aus Bei Hanoun erzählt, dass im vergangenen Jahr eine
erhebliche Verbesserung der persönlichen Sicherheitslage der Bürger
eingesetzt habe. „Ich fühle nicht mehr das Bedürfnis, wie früher
bewaffnet auf der Straße herumzulaufen, aus Sorge, mit einem
Bewaffneten aneinander zu geraten“, sagt er. Auch A. ist sich
freilich bewusst, dass die Realität komplizierter ist. „Als die
Hamas an die Macht gekommen ist, hat sie eine dramatische
Verbesserung der Verkehrskontrollen eingeführt. Die neue Regierung
hat die Einwohner gezwungen, Wagenpapiere zu erwerben. Im Moment
gibt es allerdings kaum Autos auf den Straßen wegen des
Treibstoffmangels. Was haben wir also erreicht?“
Ähnliches sagt S.: „In Bezug auf persönliche Sicherheit leben wir
besser als vorher, aber was bringt das alles, wenn der Magen knurrt
und die Tasche leer ist? Es gab den Traum, Gaza zum ‚Singapur des
Nahen Ostens’ zu machen, aber wir sind zu Tora Bora in Afghanistan
geworden.“
Jedoch auch die Verbesserung der persönlichen Sicherheit muss man
im Verhältnis prüfen. Seit dem Putsch im Juni 2007 bis Anfang des
Monats sind 118 Palästinenser bei internen Auseinandersetzungen im
Gaza-Streifen getötet worden. Außerdem bevölkern Hunderte von
politisch verfolgten Fatah-Leuten die Gefängnisse in Gaza.
Die Mehrheit der Einwohner beschwert sich allerdings
hauptsächlich wegen der tagtäglichen Schwierigkeiten. Etwa 50% der
Gazaer sind arbeitslos. Rund zwei Drittel leben unter der
Armutsgrenze und brauchen die Hilfe internationaler Organisationen,
um zu überleben.
Annähernd 90% der Fabriken sind aufgrund des Rohstoffmangels
geschlossen, nachdem Israel eine Sperre über die Übergänge verhängt
hat. Der Bausektor ist völlig zum Erliegen gekommen.
Zwar sind die meisten Grundnahrungsmittel noch in Gaza
erhältlich, allerdings zu Wucherpreisen. A. erzählt, dass sich der
Preis von Tchina im letzten Jahr verdoppelt hat. So auch die
Obstpreise.
„Jede Woche verteilt die Hamas Benzincoupons, für etwa 20 Liter.
Wir leben wieder so wie in der früheren Sowjetunion. Jeden Tag gibt
es für drei bis vier Stunden Stromausfälle. Ins Ausland kann man
nicht reisen, und auch in Gaza kann man mit Kindern nicht mehr
reisen, seit es kein Benzin mehr gibt“, klagt er.
Die wirtschaftliche Not hat, wie zu erwarten war, religiöse
Radikalisierung mit sich gebracht. Viele lassen sich Bärte wachsen
und gehen in die Synagogen, um den Hamas-Leuten zu beweisen, dass
sie sich der Religion und der Organisation angenähert haben. „Früher
haben hauptsächlich ältere Leute die Morgengebete absolviert. Heute
nehmen immer mehr junge Leute an ihnen teil“ sagt P. Mit der
fortdauernden religiösen Radikalisierung steigen die Angriffe auf
westliche Einrichtungen. Mehr als 40 Internet-Cafés sind in den
vergangenen 12 Monaten attackiert worden. So auch Restaurants,
Boutiquen und christliche Einrichtungen.
„Unser Traum ist, dass es bald zur Versöhnung zwischen Fatah und
Hamas kommt“, sagt A. „Ein Frieden mit Israel scheint weniger
realistisch.“
(Haaretz, 13.06.08) |