II. Syrien „Die Syrer betrachten sich militärisch noch immer unterlegen
gegenüber der Luftwaffe, der technologischen Überlegenheit und den
modernen Waffensystemen Israels. Daher entwickeln sie Möglichkeiten
einer anderen Kriegsführung. Sie rüsten nicht mit Flugzeugen und
Tankern auf, sondern mit Flug- und Panzerabwehrraketen sowie
Langstreckenraketen. Dieser Trend ist schon seit einigen Jahren zu
beobachten, er basiert aber auch auf den Lektionen, die Syrien aus
dem gelernt hat, was es als Erfolg der Hisbollah im Jahr 2006
betrachtet. Sie stärken Elemente von Terror- oder
Guerillaorganisationen: Tarnung, Täuschung, Panzerabwehrwaffen und
einfache Raketen. Artillerie wird zu Infanterie und
Luftwaffenausrüstung zu Boden-Boden-Raketen umgewandelt. Auf der
einen Seite steigert die syrische Armee ihre
Verteidigungsbereitschaft erheblich, auf der anderen Seite steigert
sie ihre Fähigkeit, die israelische Heimatfront zu treffen.“
„Die Syrer investieren heute nicht wenig in die quantitative
Verbesserung ihres Raketenarsenals und in die Treffsicherheit der
Raketen, die die israelische Heimatfront treffen können.
Gleichzeitig versteht der Syrer, dass er nicht die Hisbollah ist. Er
weiß, dass er, wenn er wie die Hisbollah die israelische Heimatfront
beschießt, strategische Aktiva verlieren wird. Aktiva, die einen
Staat wie Syrien von einer subpolitischen Organisation wie der
Hisbollah unterscheiden.“
„Während des Libanonkriegs hat der Syrer zuviel
Hisbollah-Fernsehen – al-Manar – gesehen. Daher kam ihm direkt nach
dem Krieg der Gedanke, er könne das, was die Hisbollah gemacht hat,
auch machen. Da jedoch das strategische Denken des Syrers
beeindruckend ist, hat er schnell verstanden, dass seine Lage eine
andere ist als die der Hisbollah. Er hat etwas zu verlieren: eine
Armee, eine Luftwaffe, eine Flotte, eine politische Infrastruktur.
Daher will er es nicht zu einem umfassenden Krieg mit einer direkten
Front mit Israel und den Israelischen Verteidigungsstreitkräften
(ZAHAL) kommen lassen.
Dennoch dürfen wir uns nicht symmetrischem Denken hingeben. Die
Kriegsziele des Syrers sind keine klassischen Kriegsziele. Er strebt
nicht nach Manövern und Gebietseroberung und nicht nach einer
völligen Niederlage des Staates Israel. In den Augen des Syrers ist
eine Auseinandersetzung, in der weder Israel noch er gewinnt, ein
Sieg für ihn. Er geht nicht davon aus, dass es ein strategisches
Gleichgewicht mit Israel gibt, aber er fühlt, dass er die Fähigkeit
dazu hat, mittels der negativen Aktivposten in seiner Hand den Preis
für Israel zu erhöhen. Er möchte Israel in eine ihm genehme
politische Lage zwingen, ohne zu einem vollen Krieg im klassischen
Sinne zu gelangen.“
„Die Prioritäten des Assad-Regime sind klar: zuerst die
Stabilität des Regimes, dann Libanon und zuletzt die Rückgabe des
Golan. Wenn ein frieden mit Israel diesen Zielen dient, ist Assad
interessiert. Ich gehe davon aus, dass Assad einer gewissen Art von
Frieden zu seinen Bedingungen zustimmen wird.“
Ari Shavit: Wenn Israel sich bis zu den Waffenstillstandslinien
vom 4. Juni 1967 zurückziehen und keinen Strategiewechsel von
Damaskus verlangen würde – käme es dann zu einem Frieden?
„Dies sind die Bedingungen Assads. Aber auch sie lassen die
Fragen der Sicherheitsregelungen, des Wassers und des Wesens des
Friedens offen, die erst im Laufe von Verhandlungen besprochen
werden würden. Seit den letzten Verhandlungen in Shepardstown
sind acht Jahre vergangen. In diesen Jahren haben sich
bedeutsame Dinge ereignet. Die Beziehungen zwischen Syrien und der
Hisbollah auf der einen und zwischen Syrien und dem Iran auf der
anderen Seite sind anders als im Jahr 2000. Die Syrer haben ihren
Einfluss im Libanon zum großen Teil verloren. Der Iran, der
zur strategischen Stütze Syriens geworden ist, verfolgt ihm
gegenüber heute eine Umarmungstaktik, mit Waffenlieferungen,
Ausbildungen, Geld. Insofern sind die Möglichkeiten Assads, sich von
Syrien und der Hisbollah zu lösen, sehr viel begrenzter. Die Sache
ist komplizierter.“
A.S.: D. h. im Jahr 2008 ist es schwerer, ein Friedensabkommen zu
erreichen als im Jahr 2000?
„Auf jeden Fall. Das bedeutet nicht, dass man es nicht versuchen
muss. Aber es ist schwieriger.“
„Die Sicherheitsregelungen, von denen im Jahr 2000 die Rede war,
bezogen sich auf die Bedrohung durch Angriffsdivisionen. Heute
müsste man sich auch mit der Bedrohung durch Boden-Boden-Raketen
beschäftigen. 2000 wurden die Verhandlungen unter amerikanischer
Ägide geführt, mit amerikanischer Ermutigung und mit der
amerikanischen Bereitschaft, beide Seiten für ihre Zugeständnisse
mit alternativen Angeboten zu kompensieren. Heute ist die Haltung
der Amerikaner weniger enthusiastisch.“
„Aus Sicht der Syrer ist der Frieden mit Israel eine Art
notwendiges Übel, um andere Ziele erreichen zu können. Der tiefe
Wille der Syrer geht dahin, aus der beinahe lepraartigen politischen
Isolation heraustreten zu können, in der sie sich befinden. Israel
allein kann dem Syrer nicht die Tore der Welt öffnen. Jemand anders
muss ihm dies bieten. Daher wartet Assad auf den Moment, in dem die
amerikanische Regierung wechselt und ihm Israel das gibt, was er
sich wünscht.“
A.S.: Im Prinzip schätzen Sie, dass ein Friedensprozess mit
Syrien im Jahr 2009 Aussicht hat, nicht jetzt?
„Genau so.“
„Assad will zu einem Frieden mit Israel zu seinen eigenen
Bedingungen gelangen. Anders als andere Staaten der Achse des Bösen,
die Israel nicht anerkennen, nicht in Verhandlungen mit ihm
eintreten wollen und nur die militärische Option gegen Israel
anerkennen, gehört Assad zu dem Lager, das sich beide Optionen
vorbehält. Assads öffentliche Worte über seine
Verhandlungsbereitschaft stellen jedoch einen kurzfristigen Schritt
dar, der mit anderen Dingen zusammenhängt. Es handelt sich um einen
Versuch, das internationale Tribunal zur Untersuchung der Ermordung
[des früheren libanesischen Ministerpräsidenten] Hariri anzuhalten;
einen Versuch, den Eindruck zu überdecken, der von dem US-Bericht
über das, was in Deir al-Zur in Ostsyrien entwickelt wurde, geweckt
worden war; und den Versuch, eine Eskalation zu verhindern.“
„Der natürliche Ort des Syrers ist nicht die schiitisch-radikale
Achse Teheran-Hisbollah-Hamas. Die Syrer sind mehrheitlich Sunniten,
nicht Schiiten. Syrien ist ein säkularer Staat, daher ist es kein
natürlicher Freund der Achse des Bösen. Die strategischen Umstände
haben Syrien dahin geführt. Syrien hat gute Gründe, zu einem Frieden
mit Israel zu gelangen und es kann auf jeden Fall ins andere Lager
überwechseln, wenn es eine angemessene Gegenleistung
erhält. Syrien hat nicht die Sadatsche Haltung eines ‚no more
war’ in Hinsicht auf ein Ende des Blutvergießens, aber wenn
machiavellistische strategische Gründe es ihm vorschreiben, zur
Friedensachse zu wechseln, wird es dies tun.“
(Haaretz, 16.05.08) |