Von Sever Plocker Sind wir verrückt geworden? Ist etwa schief gelaufen mit unserem
kollektiven Verstand? Der Staat Israel ist drauf und dran, seine
60jährige Unabhängigkeit in einer Atmosphäre von Bitterkeit,
Depression und öffentlichem Widerwillen gegen die „Geldverschwendung
für Feierlichkeiten“ zu begehen. Der Staat Israel, dessen Existenz,
Wachstum und Prosperität von vielen auf der Welt als eine der
eindrucksvollsten und einflussreichsten Erfolgsgeschichten der
Moderne wahrgenommen wird, versinkt in Melancholie, als ob er ein
totaler Misserfolg wäre. Einige zig Millionen Shekel, die für die
Finanzierung bescheidener Feierlichkeiten bereitgestellt wurden,
erscheinen wie eine riesige Haushaltsausgabe, die dem Steuerzahler
nicht zugemutet werden kann oder nicht zugemutet werden soll.
Ist es wahr? Israels Bruttonationaleinkommen wird dieses Jahr 700
Milliarden NIS (etwa 120 Milliarden Euro) betragen; das Budget der
Feierlichkeiten beläuft sich auf 70 Millionen NIS (etwa 12 Millionen
Euro) – 0.01% des jährlichen Bruttonationaleinkommens. Eine Absage
der Feierlichkeiten würde 0.02% des Regierungshaushalts einsparen –
sehr viel weniger als ein gewöhnlicher statistischer Irrtum.
Und eine andere Rechnung: Die Durchschnittskosten der
Feierlichkeiten werden bei 10 NIS (etwa 1.75 Euro) liegen. Zehn
Shekel für die Freude über die Existenz eines blühenden jüdischen
Staates, den viele Nationen beneiden. Wenn dies nicht Freude zum
Schleuderpreis ist.
Straßenszene
in Sichron Yaakov
„Es besteht kein Grund zur Freude“, sagen die Israelis. Warum
eigentlich nicht? Es gibt einen Grund zur Freude. Mit all seinen
Unzulänglichkeiten, Sorgen, Zweifeln, Hindernissen, Sünden und
tiefen Schmerzen ist das Israel von 2008 eines der erfolgreichsten
Länder auf der Erde. Auf der internationalen Meßlatte des human
development rangieren wir dieses Jahr auf Platz 21, auf der des
Gesundheitswesens auf Platz 11.
Hinken unsere Kinder im Erziehungswesen hinterher? Ja, aber die
israelische Kultur blüht dieser Tage wie nie zuvor. Und die
Wirtschaft? Blicken wir einmal 20 Jahre zurück. 1988 betrachtete man
Israel als isoliertes, unstabiles Land mit einer kranken Wirtschaft,
das auf permanente amerikanische Hilfe angewiesen war. Seitdem ist
das Bruttonationaleinkommen pro Kopf von 9 000 auf 26 000 Dollar
angestiegen, auch dank des starken Shekels. Israels Absorption von
mehr als einer Million neuer Einwanderer war ein phantastischer
Erfolg. Das Florieren der High-Tech-Industrie hat 50 Milliarden
Dollar an ausländischen Investitionen eingebracht und Israel zu
einem der führenden Länder der IT-Revolution gemacht.
Es stimmt, dass der Prozentsatz der unter der Armutsgrenze
lebenden Bürger vor 20 Jahren kleiner war als heute, aber die
Armutsgrenze war um beinahe 65% niedriger. Die Armen von 2008 sind
die Mittelklasse von 1988. Warum sind wir also knauserig, wenn es um
die 70 Millionen NIS für die Feierlichkeiten geht?
Ich betrachte mich selbst als kritischen Journalisten,
insbesondere wenn es um soziale Fragen geht. Ich glaube, dass es
eher die Pflicht des Journalismus ist, die Flecken auf der Sonne
hervorzuheben als davon beeindruckt zu sein, dass sie jeden Morgen
scheint. Aber es scheint mir, dass wir allmählich unseren Verstand
verlieren, unsere Fähigkeit, stolz auf etwas zu sein, und – im
Resultat - unsere unabhängige Identität. Wir beginnen zu
glauben, dass eine verzerrte Karikatur Israel widerspiegelt. Und
dies ist nicht der Fall: Israel ist nicht das schlimmste aller
Länder. Es ist eines der besten.
Ich habe weder die Besatzung vergessen und ihren Preis, noch habe
ich vergessen, dass ein echtes Friedensabkommen um die Ecke ist. Ich
habe nicht vergessen, dass die arabische Welt Israel anerkannt hat
und offen ihre Sehnsucht nach Frieden mit uns erklärt, in ihrer
eigenen Sprache, für einen Preis, der nicht unerträglich ist, der
von beiden Nationen akzeptiert wird. Wir müssen lediglich das
gegenseitige Misstrauen überwinden.
Ich habe mir noch einmal den Bericht des UN-Komitees von 1947
durchgelesen, der die Gründung eines jüdischen Staates im Land
Israel empfahl. Die Mitglieder des Komitees anerkannten das Recht
des jüdischen Volkes auf seine Heimat, obwohl das zu diesem Zweck
zugeteilte Territorium nur für die Absorption einer zusätzlichen
Million jüdischer Einwanderer ausreichte, nicht für mehr. Und ich
habe die Bemerkungen des syrischen UN-Repräsentanten gelesen, der im
Namen der Arabischen Liga erklärte, dass die Juden von khasarischem
Ursprung seien, also von „russisch-mongolischen Stämmen“ abstammten,
und somit „keine Nation“ seien. Das jüdische Volk, so sprach der
Syrer vor 60 Jahren, sei eine zionistische Erfindung.
Selbst wenn das jüdische Volk eine „Erfindung“ ist – einer heute
populären Theorie zufolge sind alle Nationen der Welt,
einschließlich der Palästinenser „Erfindungen“ und „erdachte
Gemeinschaften“ -, ist es eine der großartigsten Erfindungen der
Menschheitsgeschichte in den vergangenen 2500 Jahren. Und so auch
der Staat Israel.
(Yedioth Ahronot, 06.04.08)
Informationen zu den 60-Jahr-Feiern in Deutschland finden sich
unter dem folgenden Link: http://berlin.mfa.gov.il/mfm/web/main/document.asp?DocumentID=135701&MissionID=88
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