(3) Botschafter
Shimon Stein: „Einseitiger Rückzug aus Gaza hat nichts
gebracht“
„Dieser Krieg war aus der Sicht Teherans wohl nur die
erste Runde“
Botschafter Shimon Stein richtet sich nach dem
Militäreinsatz im Libanon auf weitere Kämpfe in der Region ein –
„Einseitiger Rückzug aus Gaza hat nichts gebracht“
Stuttgarter Zeitung, 15. November 2006
Botschafter Shimon Stein drückt im Interview mit Peter Christ,
Knut Krohn und Adrian Zielcke die Dankbarkeit für die deutsche Hilfe
aus. Allerdings mahnt er die Deutschen auch zur Wachsamkeit.
Herr Botschafter Stein, Israel agierte in der jüngsten
Vergangenheit nicht glücklich. Alle wichtigen militärischen Aktionen
waren im Grunde Fehlschläge: der einseitige Gaza-Abzug und der
Feldzug im Libanon.
Das mag Ihre Einschätzung sein, ich teile sie nicht. Die
israelische Regierung musste auf die Eingriffe reagieren. Hinter dem
einseitigen Rückzug aus dem Gazastreifen stand die Hoffnung, dass
der tägliche Beschuss Israels durch Kassamraketen aus dem
Gazastreifen endlich aufhören würde. Doch in diesem Fall sind wir
enttäuscht worden. Dennoch wollte unser Premier Ehud Olmert den
eingeschlagenen Weg fortsetzen und auch Siedlungen im Westjordanland
räumen. Doch dann kam der Krieg im Libanon dazwischen.
Auch aus dem Libanon hatte sich Israel einseitig
zurückgezogen. Ebenfalls in der Hoffnung, den Konflikt zu
entschärfen.
Das stimmt, die Vorgeschichte ist ähnlich. Auch mit diesem
Rückzug im Mai 2000 sollte sich die Lage im Norden Israels etwas
normalisieren. Auch das war eine Illusion. Seit sechs Jahren sind
wir ständig mit Angriffen der Hisbollah konfrontiert. Das hat die
Israeli zur Erkenntnis geführt, dass die Politik des einseitigen
Rückzugs nichts gebracht hat. Man kann sagen, dass diese Politik
eingestellt wurde – vorläufig zumindest. Ich glaube, dass wir uns
den Luxus nicht mehr leisten können, uns zurückzuziehen und dann
einfach abzuwarten, was passiert.
Was heißt das konkret?
Das kann man jetzt noch nicht sagen. Aber wir werden weitere Wege
suchen, dass die Menschen in Israel in Frieden und Sicherheit leben
können und dass der jüdische und demokratische Charakter des Staates
aufrechterhalten wird.
Aber können Sie umreißen, welche Lehren Israel aus dem
blutigen Krieg im Libanon gezogen hat?
Der Ablauf dieser kriegerischen Auseinandersetzung wird sehr
intensiv untersucht. Das hat auch damit zu tun, dass in der
israelischen Bevölkerung großer Unmut über die politische und
militärische Führung herrscht. Und ich gehe davon aus, dass die
Untersuchungskommissionen schnell zu ihren Ergebnissen kommen
werden. Zum Teil sehen wir das schon innerhalb der israelischen
Streitkräfte. Einige hochrangige Offiziere mussten zurücktreten. Man
muss abwarten, ob der Bericht, der sich mit den Aktionen der
Regierung befasst, auch persönliche Konsequenzen für den einen oder
anderen Politiker haben wird. Untersucht wird etwa, weshalb es
Israel zugelassen hat, dass die Hisbollah nach dem Rückzug Israels
aus dem Libanon ein so großes militärisches Potenzial aufbauen
konnte. Fakt ist: wir müssen alles sehr gründlich untersuchen, weil
wir es nicht ausschließen können, dass das nicht die letzte Runde
war.
Sie glauben, dass es bald zu weiteren militärischen
Auseinandersetzungen in der Region kommen wird?
Ich glaube, dass die Hisbollah weiter eine Strategie verfolgt,
die alles andere als stabilisierend wirkt. Sehen Sie: der Krieg im
Libanon war der erste Krieg, der nicht zwischen Israel und der
arabischen Welt geführt worden ist. Das war ein Krieg zwischen
Israel und den Stellvertretern des Iran, denn die Hisbollah ist ein
Instrument für die expansionistische Politik Teherans. Und dieser
Krieg war wahrscheinlich aus der Sicht Teherans nur die erste Runde.
Aus diesem Grund sind auch die gemäßigten sunnitischen Staaten in
der Region überaus beunruhigt: Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien,
Marokko. Die Auswirkungen dieser Art eines Stellvertreterkrieges auf
die Region sind noch nicht abzusehen.
Das ist – gelinde ausgedrückt – eine ernüchternde Aussicht.
Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem wir deutsche
Soldaten in den Nahen Osten geschickt haben, um den Waffenstillstand
zu sichern und dem Frieden in der Region auf die Beine zu
helfen.
Es ist an Deutschland zu entscheiden, wie aktiv man im Ausland
sein will. Aber Tatsache ist, dass Berlin heute wesentlich mehr
Verantwortung in der Welt übernehmen will als noch vor einigen
Jahren. Das sind sehr grundsätzliche Fragen, denen sich die deutsche
Politik stellen muss.
In Deutschland werden diese Einsätze im Ausland sehr heftig
diskutiert – besonders der aktuelle Einsatz im Nahen Osten.
Das ist nicht verwunderlich. Deutschland ist zum ersten Mal im
Nahen Osten aktiv. Das hat die Bundesregierung damit begründet, dass
man einen Beitrag zur Stabilisierung der Lage im Libanon leisten
möchte – und dass auch indirekt die Sicherheit des Staates Israel
befördert wird.
Die Regierung in Jerusalem hat es sehr begrüßt, dass sich
Berlin an der Nahostmission beteiligt. Das hat viele überrascht.
Doch kaum sind die deutschen Soldaten vor der Küste des Libanon
angekommen, werden sie von israelischen Flugzeugen angegriffen.
Es kam zu Zwischenfällen, die wir bedauern, aber von Angriffen
kann keine Rede sein. Sie müssen eines bedenken: Die Lage im Libanon
bleibt für Israel sehr riskant und instabil. Die von den UN
verabschiedete Resolution ist noch lange nicht vollständig
umgesetzt. Das hießt, die Hisbollah ist noch immer nicht vollständig
entwaffnet. Dann sind die beiden israelischen Soldaten noch immer
nicht frei. Und – das ist ein sehr wichtiges Thema – es werden
ständig Waffen in den Libanon geschmuggelt. Ich glaube, wenn diese
drei Punkte erfüllt werden, dann wird es keinen Anlass für Israel
geben, weiter diese Flüge über dem Libanon durchzuführen. Denn die
Flüge haben den einzigen Zweck, uns Informationen über Aktionen zu
geben, die uns gefährden könnten. Den Zwischenfall zwischen uns und
der Bundesmarine haben wir während des Besuches des deutschen
Verteidigungsministers Jung in Israel besprochen, und ich hoffe,
dass sich solche Zwischenfälle in Zukunft nicht wiederholen werden.
Der Einsatz der deutschen Soldaten im Nahen Osten kann als
ein sehr deutliches Zeichen verstanden werden, dass das Verhältnis
zwischen Israel und Deutschland in bestimmten Bereichen zu einer
gewissen „Normalität“ gefunden hat. Gilt das auch für das Leben der
Juden in Deutschland?
Ich bin nun schon fast sechs Jahre als Botschafter in Berlin, und
meine Beobachtung ist, dass es tatsächlich zum Alltag in Deutschland
gehört, dass jüdisches Leben weiter Fuß fasst. Dazu gehört aber auch
die Hoffnung, dass Juden in der Lage sein werden, in diesem Land ihr
Leben und ihre Identität zu wahren, ohne ständig in der Gefahr leben
zu müssen, von Rechtsextremisten angegriffen zu werden.
Sie meinen damit sicher das Erstarken rechtsextremer Parteien
vor allem in Ostdeutschland?
Der Wahlausgang in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, die
Anwesenheit der DVU in Brandenburg – auch das gehört zum Alltag in
Deutschland. Das sage ich mit sehr großem Bedauern. Mit den
Beziehungen zwischen Israel und Deutschland haben diese Vorgänge
natürlich nur zum Teil zu tun. Aber die Juden, die hier leben,
müssen ein normales Leben führen können.
Sind Sie entsetzt, dass Rechtsradikale es inzwischen wagen,
in der „Reichshauptstadt Berlin“ einen viel beachteten Aufmarsch
durchzuführen?
Nicht ich muss entsetzt sein, die Deutschen müssen entsetzt sein.
Es stellt sich die Frage, ob die Menschen in Deutschland das
akzeptieren und einfach zur Tagesordnung übergehen wollen. Das ist
eine Frage, die nicht an einen Außenstehenden gestellt werden kann.
Ich kann nur nach Hause berichten über das, was ich sehe und höre.
Aber Sie hier sind die Bürger dieses Landes. Und die Frage ist, ob
Sie als Bürger dieses Landes entsetzt sind. Und Sie müssen sich
fragen, was Sie tun, um diesem Phänomen entgegenzutreten und es
schließlich im Keim zu ersticken.
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