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Granatsplitter im Schulhof
Auszüge aus einem Bericht von Vered Lee, Haaretz,
4.9.06
Gleich nach Betreten der Grundschule „Hamifalsim“ in Kirjat Jam
eilten die Schüler zu den Stellen, wo die Schule beschädigt worden
war. Die älteren näherten sich der Wand des Labors, die
zusammengebrochen und nun von einem Zaun umgeben war, um einen Blick
darauf zu werfen. Die jüngeren Schüler standen eine Weile da und
betrachteten die Spuren der Granatsplitter an der Wand der
Turnhalle.
„Ich war traurig als ich hörte, dass die Schule getroffen war“,
sagte Jarin Garfi, ein Drittklässler. „Nun können wir die Turnhalle
nicht mehr benutzen sondern müssen auf den kleinen Sportplatz
gehen.“
Etwa 40 Katjuschas fielen auf Kirjat Jam. Am letzten Kriegstag
wurde „Hamifalsim“ direkt getroffen. Die Wand der Turnhalle wurde
beschädigt und für baufällig erklärt. Auch das Biologielabor und der
angrenzende Mathematikraum nahmen Schaden. Ausrüstung wurde zerstört
und die Fenster der Schule gingen zu Bruch. Das Schulgelände wurde
von den Glasscherben gesäubert. Doch der Schaden an den Wänden wurde
noch nicht repariert. (…)
Um 8.00 Uhr betraten die Fünftklässler ihr Klassenzimmer. Die
Klassenlehrerin Liat Baron bat sie, ihre Erwartungen und Anliegen
für das kommende Schuljahr auf Wunschzettel zu schreiben, die dann
an die Wand gehängt werden sollten. Neben den üblichen Äußerungen
–Erfolg beim Lernen, ein DJ sein- wünschten sich die Schüler auch,
„dass es keinen Fehlalarm mehr geben wird“, „dass das Atomprogramm
des Iran gestoppt wird“, „dass keine Atombomben auf uns geworfen
werden“ und „dass Nasrallah und der iranische Präsident tot
umfallen“.
Um 9.00 Uhr begann die festliche Eröffnungszeremonie für das neue
Schuljahr. (…) Wegen des Schadens an der Turnhalle wurde die
offizielle Zeremonie in den kleinen Schulhof verlegt. Doch später
gingen die Kinder in den großen Schulhof, wo sie von den Lehrern
Luftballons überreicht bekamen. Die Kinder wurden gebeten, ihre
Augen zu schließen und still einen Wunsch zu äußern, bevor sie die
Ballons starten ließen.
Um 10.30 Uhr kehrten die Kinder in ihre Klassenzimmer zurück. (…)
Klassenlehrerin Baron fragte, wer während des Krieges im
Luftschutzbunker war. Alle Kinder hoben die Hand. Ihre Geschichten
vermischten sich, und sie unterbrachen einander beim Erzählen. (…)
Multikulturelle Schule
„Hamifalsim“ liegt im Herzen des Viertels „Dalet“. Es ist eine
arme Gegend (…) Vered Fischer ist seit zwei Jahren die Leiterin der
Schule. (…) Die Ganztagsschule, in der es auch Essen gibt, wird von
192 Schülern in sieben Klassenstufen besucht.
„Es ist eine multikulturelle Schule im wahrsten Sinn des Wortes“,
sagte Fischer. Zwanzig Prozent der Schüler seien Kinder äthiopischer
Immigranten und sechzig Prozent seien Kinder von Immigranten aus der
früheren Sowjetunion, erklärte Fischer.
„Für die meisten unserer Schüler ist Hebräisch die zweite
Sprache. Sie selbst sprechen in der Tat Hebräisch. Doch nach der
Schule, wenn sie das Schultor erreichen, hört man sie zu Amharisch
oder Russisch wechseln, um sich mit ihren Großeltern zu unterhalten,
die gekommen sind, um sie abzuholen. Diese Kinder kommen zu den
Eltern-Lehrer-Gesprächen, um für ihre Eltern zu übersetzen, was der
Lehrer sagt. Die meisten Kinder stammen aus Familien mit nur einem
Elternteil, und um die Hälfte von ihnen kümmert sich die städtische
Sozialhilfe.“
Letzten Mittwoch, vier Tage vor Beginn des neuen Schuljahres, gab
es in der Schule ein geschäftiges Treiben. Der Hausmeister, Malichov
Good, gab den Freiwilligen –einer Gruppe von Gymnasiasten, die von
der Stadtverwaltung geschickt worden waren-, Anweisungen, um
Reparaturarbeiten vorzunehmen. Und die Lehrer kamen zu einem Treffen
mit der Schulleiterin.
Einen Tag zuvor hatte Fischer für die Lehrer einen Workshop für
Darbuka-Trommeln gehalten, um dadurch einige der Anspannungen zu
lösen. „Es war befreiend“, sagten die Lehrer und bestätigten mit
einem Lächeln Fischers Entscheidung, einen ähnlichen Workshop auch
für die Schüler zu halten.
Außerdem trafen sich die Lehrer mit dem Schulpsychologen Itzik
Vilnai und diskutierten über ihre Kriegserfahrungen.
„Als Ortsansässige machten die Lehrer selbst einige schwierige
Erfahrungen und brauchten genauso viel Hilfe wie die Schüler“, sagte
Fischer. „Eine Lehrerin sagte mir, sie habe aufgehört zu
funktionieren. Sie sei nur hilflos dagesessen und habe auf die
Sirenen gewartet. Andere sprachen über ihre Sorge um ihre Kinder,
die in der israelischen Armee ihren Dienst tun, und über den Wunsch,
die Sachen zu packen und zu gehen.“
Fischer wies die Lehrer an, den ersten Tag in den Klassen mit
herkömmlichen Fragen wie z. B. „Wie waren deine Sommerferien?“ zu
beginnen. Es sei besser eine offene Frage zu stellen und nicht
direkt nach dem Krieg zu fragen, erklärte sie. „Wenn dann eine
Diskussion entsteht, fragen Sie die Kinder, wo sie während des
Krieges waren. Waren sie zu Hause oder die ganze Zeit im
Luftschutzraum? Mussten sie sich von ihren Eltern trennen und bei
Verwandten sein? Dies ist eine unfreiwillige Trennung und kann
manchmal eine Narbe hinterlassen. Beobachten Sie, wie es den Kindern
geht. Schreiben Sie Erfahrungen auf, die Sie bewegen. Immer noch
teilen mir Eltern mit, dass ihre Kinder Angst haben.“
Fischer gab den Lehrern eine Informationsbroschüre des
Bildungsministeriums, die helfen soll, Ängste zu identifizieren. Sie
informierte auch darüber, dass Lehrer, die die Aufsichtspflicht auf
dem Schulhof haben, nun eine zusätzliche Aufgabe erhalten: Kinder
erkennen, die Sorgen oder Angst haben. Gegen Ende des Treffens
gingen die Lehrer gemeinsam durch das Schulgebäude. „Jeder Lehrer
muss seinen Schülern die Schutzräume in der Schule zeigen und mit
ihnen in die Luftschutzräume gehen“, sagte Fischer. (…)
Wieder aufbauen und nach vorne schauen
Die Sportlehrer betraten das Büro der Schulleiterin. „Machen Sie
sich keine Sorgen. Denken Sie positiv“, versicherte sie ihnen. „Man
wird die Sporthalle reparieren und die Schule wird am Ende eine
neue, frisch gestrichene Halle haben.“
Nachdem sie das Büro verlassen hatten, sagte sie: „Ich muss
Stärke und Optimismus zeigen, um den Lehrern das Gefühl zu geben,
dass alles in Ordnung ist. Ich weise dauernd darauf hin, dass die
beschädigte Ausstattung kein Problem ist, weil wir neue und bessere
Dinge bekommen werden. Und auch den Schülern geben wir eine positive
Botschaft weiter. Obwohl die Schule getroffen wurde, musste sie
nicht schließen. Wir werden darüber hinwegkommen, wir werden alles
wieder aufbauen und nach vorne schauen.“
Mathematiklehrerin Rima Kotov stand am Eingang zum zerstörten
Labor und zögerte, hineinzugehen. „Es ist sehr traurig, das zu
sehen“, sagte sie. „Bevor wir in die Ferien gingen, halfen die
Kinder, den Raum aufzuräumen. Alles wurde ordentlich aufgestellt –
und nun ist alles zerstört.“
Die Erstklässler kamen gemeinsam mit ihren Eltern zu einem
Treffen mit der Klassenlehrerin Shlomit Elbar. Sie hatten neue
Schulranzen gefüllt mit Schulmaterial, das der Bürgermeister für das
neue Schuljahr gesammelt hatte.
„Ich habe das Gefühl, die Eltern sind angespannter als die
Schüler“, sagte Elbar. „Es mag in der Zukunft noch Probleme geben.
Doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Schüler ruhig.“ (…)
Als sich die Schule nach Unterrichtsende leerte, traf sich
Fischer mit dem psychologischen Beratungsdienst der Schule. Sie
sprachen über den vom Bildungsministerium geplanten Probealarm.
Viele Eltern, sagte Fischer, äußerten die Sorge, dass die Kinder
Ängste und Schrecken ausstehen müssten, sobald die Sirenen während
des Probealarms ertönen würden. Der Psychologe Vilnai sagte, er
denke nicht, dass das unbedingt schlimm sei.
„Der Probealarm wird das, was sich langsam setzt und vergessen
wird, wieder aufwecken. Da wir annehmen, dass immer noch die
Notwendigkeit besteht, die Kriegserfahrung aufzuarbeiten, kann er
die Möglichkeit bieten, dies zu tun. Es kann eine Herausforderung
sein. Wenn es geschieht, sollte man darüber nachdenken, wie man es
in die Klasse und in regelmäßige Aktivitäten einbezieht“, sagte
er.
„Ich habe Angst vor dem Tag des Probealarms“, gestand Leah
Goldfinger, Lehrerin für den Förderunterricht. „Ich glaube, dass an
diesem Tag Tränen und Ängste hervorbrechen werden. Und ich muss
sagen, dass ich mich selbst in der gleichen Lage wie die Kinder
befinde. Ich habe sogar schon daran gedacht, an diesem Tag nicht zur
Schule zu kommen, nur um zu vermeiden, dass ich die Sirenen höre.“
(Haaretz.com, 4.9.)
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