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Hintergrundbericht „Vorwärts zum Rückzug“
Auszüge aus einem Bericht von Amos Harel, Ha'aretz,
10.06.2005
Komplette englische Version: http://www.haaretz.com/hasen/spages/586595.html
Avi Dichter teilt die apokalyptischen Vorhersagen seines
Freundes, Generalleutnant der Reserve Moshe "Bogey" Ya'alon, nicht.
Vor einer Woche war der frühere Stabschef in einem
Ha'aretz-Interview mit Ari Shavit der Meinung, nach der Abkopplung
werde ein "dritter Terrorkrieg" in der Westbank ausbrechen, ein
Krieg, der die Städte in Israels Zentrum und im Norden des Landes
gefährden werde. „Ich hörte seine Einschätzung", sagt Avi
Dichter, der frühere Leiter des israelischen Inlandgeheimdienstes
Shin Bet. „Doch ich kenne keine Geheimdienstinformationen, die sie
stützen. Ich kenne auch keine Logik, die sie stützt. Einer unserer
Fehler ist, dass wir uns weigern, eine komplette Analyse des ganzen
Problems zu machen. Wir sehen auf die Zermürbung, die wir durch
diesen Krieg erlebt haben, und auf unsere Schlussfolgerungen, und
wir weigern uns zu sehen, wie es den Palästinensern ergangen ist."
Die relative Ruhe in Westbank und Gaza kommt nicht von ungefähr.
Davon ist er überzeugt. Der Eindruck immenser Stärke, den Israel
während seines Krieges gegen den Terror hinterließ, wird nach dem
Rückzug aus dem Gazastreifen nicht sofort verblassen. Und obwohl
sein Haus in einer südlichen Stadt fast in Reichweite der
aufgerüsteten palästinensischen Kassam-Raketen liegt, hört sich
Dichter nicht besonders besorgt an über das, was im Gazastreifen
nach Israels Rückzug geschehen mag. Wenn Gegner des Abkopplungsplans
hofften, seine Kritik als Munition für ihren Kampf benutzen zu
können, werden sie umdenken müssen. Das Gespräch mit Dichter
macht eine Reihe von vorgefassten Meinungen zunichte. Drei Wochen
nach seiner Pensionierung als Leiter des Geheimdienstes - einen
Posten, den er 5 Jahre lang innehatte-, zeigt Dichter eine Ansicht,
die sich insgesamt von derjenigen Ya'alons unterscheidet. Wo sich
der frühere Stabschef bitter, verletzt und pessimistisch anhört und
offenbar abrechnen möchte, ist Dichter zufrieden und beinahe
optimistisch. Er äußert manche spitze Bemerkung über die
Palästinenser, doch er erwartet nicht zwangsweise einen dauerhaften
Krieg mit ihnen. Er ist nicht gegen die Abkopplung vom
Gazastreifen (und Teilen der Westbank), sondern sieht eher einigen
Nutzen in ihr. Bezüglich seiner Entlassung hat er nicht das Gefühl,
vor die Tür gesetzt worden zu sein. („Aus organisatorischen Gründen
wäre es nicht richtig gewesen, länger in diesem Job zu bleiben.") Er
äußert Lob für Ministerpräsident Ariel Sharon, ist stolz auf seine
eigenen Errungenschaften und zufrieden mit seinem Nachfolger Yuval
Diskin. Und er denkt definitiv darüber nach, in die Politik zu
gehen.
Gefahren im Westjordanland. Dichter sieht die
Abkopplung nicht als ein Davonlaufen an. Natürlich werde jeder
Palästinenser die Abkopplung als Vertreibung Israels aus dem
Gazastreifen präsentieren, so wie die Hisbollah den Rückzug der
israelischen Armee aus dem Libanon als Vertreibung darstellte. Doch
die Wahrheit über das Nachlassen der palästinensischen Gewalt sei
bekannt, sagt er. In Judäa und Samaria habe die terroristische
Infrastruktur einen bedeutenden Schlag erlitten. Seit September 2003
habe die Hamas in Samaria keinen wesentlichen Terrorangriff mehr
hervorgebracht. Auch der Islamische Dschihad habe eine schwierige
Zeit durchgemacht. In Gaza hatte man die Bewegungsfreiheit der
Mitglieder deutlich vermindern können. Sie sahen, wie weit Israel
nach einem Beschuss durch palästinensische Kassam-Raketen vordringen
konnte, und sie realisierten, dass sich die palästinensische
Bevölkerung auf Grund des israelischen Vordringens letzten Endes
gegen den Islamischen Dschihad selbst wenden würde. Und so
informierten seine Mitglieder auf eigene Initiative hin die
palästinensische Autonomiebehörde (PA) über ihre Bereitschaft, die
Gewalt einzuschränken. Unter reinen Sicherheitsaspekten
betrachtet sei der Rückzug aus dem Gazastreifen nicht anders als der
Rückzug aus dem Südlibanon, sagt Dichter. "Die Bedrohung durch die
Kassam-Raketen wird nach der Abkopplung nicht anders sein wie jetzt.
Im Gegenteil. Wenn wir heute nach Beit Hanun gehen, um uns mit dem
Kassam-Raketen-Problem auseinanderzusetzen, bekommen wir
Mörsergranaten nach Gush Katif geschossen. Nach dem Rückzug werden
die Zielmöglichkeiten, die den Palästinensern zur Verfügung stehen,
drastisch weniger sein. Nach der Abkopplung wird es leichter sein,
gegen die Kassam-Raketen vorzugehen, weil wir die Bewohner von
Gush-Katif nicht in Gefahr bringen." Im Gegensatz zum Standpunkt
von Verteidigungsminister Shaul Mofas und den Spitzen der
israelischen Armee ist Dichter dagegen, die Häuser der Siedler
intakt zurückzulassen. Man könne sie nur dann intakt zurücklassen,
wenn sie über einen Mittelsmann an die Palästinenser verkauft werden
könnten. In diesem Fall, werde die PA ihr Eigentum zu schützen
wissen. Doch wenn die Häuser zum Zeitpunkt des Rückzugs noch
jüdisches Eigentum seien, sollten sie niedergerissen werden. Sonst
würden die Palästinenser ein Plünderungs-Fest veranstalten. Und der
palästinensische Polizist, der sich der feiernden und plündernden
Masse in den Weg stelle, müsse erst noch geboren werden. Der
Gedanke, eine internationale Truppe zum Schutz in die Territorien,
die von der Abkopplung betroffen sind, zu schicken, sei einfach nur
lächerlich, weil sich auch Hans und Josef nicht gegen die Massen
stellen würden, meint Dichter.
Seine Bedenken hinsichtlich des Rückzugs betreffen
Sicherheitsvorkehrungen nach der Abkopplung von Nord-Samaria. "Hier
besteht eine Meinungsverschiedenheit mit der israelischen Armee. Die
Armee spricht von einem Rückzug aus dem Gebiet, nicht nur aus vier
jüdischen Siedlungen. Der Shin Bet betrachtet dies unter derzeitigen
Bedingungen als unkalkulierbares Risiko. Wenn wir in der Gegend von
Jenin nicht handeln, wird dort ein Vakuum entstehen, und die
Möglichkeiten, dass Terrororganisationen an Stelle des PA-Apparates
dieses Vakuum füllen, bestehen. Soweit die Terrororganisationen
betroffen sind, ist die Kombination von Informationen, die aus dem
Gazastreifen fließen werden und den in der Westbank vorhandenen
Möglichkeiten, alles, was sie sich nur wünschen können. In der
Westbank müssen wir vorsichtig sein und dürfen nicht voreilig
handeln." Insgesamt betrachtet äußert sich Dichter misstrauisch
über die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in
Westbank-Städten an die PA. Der Shin Bet und die israelische Armee
weisen diesbezüglich Unterschiede in der Haltung auf. „In der Armee
sind sie der Meinung, dass wir das Problem nehmen und den
Palästinensern hinwerfen sollten. Sie sollen damit umgehen. Sie
werden für die Städte verantwortlich sein und alles, was geschieht,
wird ihr Problem sein. Unsere Meinung ist, dass unsere Aufgabe nicht
darin besteht, uns der Verantwortung zu entledigen, sondern
Sicherheit zu garantieren." Im Jahr 2003 habe man versucht, die
Verantwortung für die Sicherheit in Bethlehem an die Palästinenser
zu übergeben. Die Palästinenser taten jedoch überhaupt nichts,
weshalb Israel einen hohen Preis in Form von ausgeführten
Terroranschlägen in Jerusalem bezahlen musste. Aus diesem Grund ist
Dichter der Meinung, dass die Verantwortung für die Sicherheit in
den Städten nur dann an die Palästinenser übergeben werden soll,
wenn diese bereit sind, etwas zu tun. Derzeit sieht er keinerlei
Zeichen, dass die Palästinenser in der Westbank ihren
Verpflichtungen nachkommen, weder in der Zusammenlegung der
Sicherheitszweige noch in der Überwachung von gesuchten Männern.
Die Abkopplung wird geschehen. Dichter ist
der Meinung, dass die Abkopplung in der Tat vorwärts schreiten wird.
"Sharon ist entschieden, sie auszuführen. Am Ende wird es geschehen,
trotz des Widerstandes. Es gibt Extremisten und Hooligans, die keine
Hemmungen haben, auf einen Soldaten oder Polizisten zu schießen,
wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Und in Gush Katif haben die
Bewohner Angst vor diesen Extremisten. Es kommt nicht von ungefähr,
dass man sie rausschmeißt. Deshalb haben sich die Extremisten im
Hotel am Strand von Neveh Dekalim eingerichtet. Letztlich wird es
mit diesem Hotel so enden wie mit dem Bunker damals in Yamit auf dem
Sinai. Extreme Szenarien sind möglich, doch die Mehrheit der
Kritiker unter den zu Evakuierenden wird sich passiv widersetzen. Es
wird schwierig und unangenehm werden, und im Fernsehen wird es nicht
gut aussehen, doch wir werden es überstehen. Wenn man an den Schaden
denkt, den die Extremisten anstellen können, denkt man manchmal an
Phänomene, die vor zwei- oder dreitausend Jahren auftraten, und man
fängt an, sie zu verstehen. Dies sind Menschen, die sich in
Halluzinationen verrennen und nach Entscheidungen von Rabbinern
suchen, die vage genug sind um das, was die Extremisten tun, als
gerechtfertigt hinzustellen. Und wenn sich ein Rabbiner weigert,
eine solche Entscheidung zu treffen, gehen sie zum
nächsten." Gefährdung der Juden in der Diaspora
Die Sorge des Shin Bet über ein Attentatsversuch auf den
Ministerpräsidenten oder einen Anschlag auf die Moscheen auf dem
Tempelberg nimmt mit der Annäherung an die Stunde Null des
Abkopplungsplans zu. Als sich die besorgniserregenden Informationen
über die Absicht, die Moscheen auf dem Tempelberg zu treffen,
häuften, ging Dichter zu einer Gruppe einflussreicher Rabbiner. „Ich
sagte ihnen, der leitende Sicherheitsbeamte des Projektes
(Tempelberg) habe angesichts der gegenwärtigen Bedrohungen sein
Möglichstes getan. Doch der Tempelberg sei nicht gegen
Panzerabwehrraketen oder gegen Drohnen geschützt. Ich erklärte
ihnen, dass ich weniger besorgt sei über das, was hier in Zion
geschehen könnte, falls ein unverantwortlicher jüdischer Extremist
versuchen werde, einen Terroranschlag auf dem Tempelberg auszuüben.
Denn in Israel haben wir bereits gelernt, uns gegen die Wellen des
Terrors zu verteidigen. Wir wissen, wie damit umzugehen ist. Doch
dieser Extremist weiß nicht, wie sehr er mit seiner Tat die Juden in
der Diaspora gefährdet. Die Verteidigungsbehörden in anderen Ländern
haben nicht die Mittel, die jüdischen Gemeinden zu schützen. Und zu
der Zeit, wenn sie die Bedeutung eines solchen Vorfalls auf dem
Tempelberg realisieren, wird es bereits zu spät sein. Im Ausland
werden wir uns einer schrecklichen Welle von Terroranschlägen
ausgesetzt sehen, die ähnlichen Ausmaßes wie der Anschlag auf das
jüdische Gemeindezentrum in Argentinien sein werden. Dies ist ein
beinahe sicheres Szenario. Und keiner dieser Rabbiner könnte
behaupten, seine Hände seien rein." Der Shin Bet hat keine
konkreten Geheimdienstinformationen über die Absicht, ein Attentat
auf den Ministerpräsidenten auszuführen. „Doch unser Einsatz an
Leibwächtern ist immens und basiert auf der Analyse der
Möglichkeiten. Im Gegensatz z. B. zum Präsidenten der Vereinigten
Staaten von Amerika schläft und arbeitet Sharon nicht am selben Ort.
Mindestens zweimal pro Tag fährt er zwischen seinem Wohn- und
Arbeitsplatz hin und her. Und es gibt auch verschiedene
Veranstaltungen, Hochzeiten, Bar-Mizwah-Feiern, die er besucht.
Potentiellen Attentätern stehen viele Möglichkeiten zur
Auswahl." Sharon kooperiert voll und ganz mit den Leibwächtern.
„Wir sollten ihm wirklich einen Preis als 'Liebling der Leibwächter'
verleihen. Er zeigt eine endlose Geduld und machte auch schon
professionelle Vorschläge, die in ihrem Scharfsinn beeindruckend
sind. Es liegt mir fern, ihn zu bewerten. Doch meiner Meinung nach
ist er eine wirkliche Führungsperson." Seine meist zitierte
Aussage machte Dichter im Dezember 2003 während der
Herzliya-Konferenz, als er zugab: „Wir haben versagt. Wir haben den
israelischen Bürgern keine adäquate Sicherheit geliefert." Dichter
sagt hierzu: „Es gab eine kritische Verzögerung in zwei wesentlichen
Punkten, dem Bau des Sicherheitszauns und dem Beginn der Operation
"Schutzschild"." Etwa die Hälfte der israelischen Toten sei bei
Terroranschlägen gestorben, die von der Westbank aus ihren Anfang
nahmen. 90% von diesen waren ermordet worden, bevor der nördliche
Teil des Zauns im August 2003 fertig gestellt worden war. Angesichts
dieser Zahlen frage man sich, wie viele Israelis heute noch leben
könnten, wären diese zwei Dinge rechtzeitig getan worden. Was die
Operation "Schutzschild" angehe, habe man sich Sorgen über das
Risiko für die Soldaten gemacht, doch man habe wertvolle Monate
verschwendet. Man kann sich von Dichter kaum vorstellen, dass er
in der nahen Zukunft die Aussagen vier seiner Vorgänger teilen wird,
nach denen die Besatzung korrupt macht. Er ist unbefangen, was die
Politik der gezielten Tötungen angeht und ist überzeugt, dass diese
Politik die Hamas zur relativen Ruhe zwang, die heute vorherrscht.
In diesem Krieg gibt es kein "Fairplay", glaubt er, und wenn ein
Kampfflieger einen Selbstmordattentäter oder dessen Boten treffen
könne, ziehe man dies der Gefährdung von Truppen bei einem
Bodeneinsatz vor. Und trotz mancher Meinungsverschiedenheiten
schätzt Dichter die Zusammenarbeit mit der israelischen Armee,
insbesondere deren Luftwaffe. Im Gegensatz zu Ya'alon ist Dichter
der Meinung, dass der Konflikt mit den Palästinensern gelöst werden
könne und dass die beiden Völker nicht bis in alle Ewigkeit
gegeneinander kämpfen werden. Diese Ansicht mindert jedoch nicht
seine Kritik an den Palästinensern. Er ist der Meinung, dass Herz
und Mund von Abu Mazen (Mahmoud Abbas), dem Vorsitzenden der
palästinensischen Autonomiebehörde, eine Sprache sprechen. „Doch ich
denke, es gibt Risiken, die wir nicht in Kauf nehmen sollten, um
sein Gesicht zu wahren. Er versteht, was das Problem ist (der
anhaltende Hamas-Terror, das Scheitern der Waffenübergabe), aber mit
allen möglichen Entschuldigungen verschiebt er ständig den Umgang
mit diesen Problemen. Doch niemand wird es an seiner Stelle
tun." "Es gibt kein Land auf dieser Erde, das solch enorme
finanzielle Hilfen bekommen hat wie die PA und doch nichts daraus
gemacht hat. In all den Jahren war unser größtes Problem, dass es
auf palästinensischer Seite keinen mutigen Partner gegeben hat. Und
Abu Mazen ist ziemlich allein. Jibril Rajoub und Mohammed Dahlan
sind nicht in Eile, Autorität und Verantwortung zu übernehmen.
Jibril blieb ein Berater und Dahlan ist Minister für zivile
Angelegenheiten, was immer das auch heißen mag...“
Dichter ist froh darüber, dass Israel hinsichtlich des
Sicherheitszauns zur Vernunft gekommen ist und verstanden hat, dass
eine physische Grenze notwendig ist und dass Jerusalem von einer
Barriere umgeben werden muss bis eine diplomatische Lösung gefunden
wird. „Es ist unwahrscheinlich, dass diese Situation keine Lösung
hat. Natürlich verlangt sie eine Menge guten Willens auf beiden
Seiten", meint Dichter.
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